Matt Mullican --
Unter dem Blickwinkel der Sozialwissenschaften betrachtet, haben wir unseren Wirklichkeitssinn in der gleichen Weise während der Kindheit erworben, wie wir Sprache erwerben – durch die Kommunikation mit Menschen in unserer Umgebung. Die „wirkliche Welt“ ist ein Bereich, den wir erst allmählich bewohnen lernen, während uns die Namen der Dinge beigebracht werden, die zu einem bestimmten Gebiet gehören, wogegen andere ausgeschlossen sind. Wir entdecken, dass die Beziehungen zwischen den Dingen gleichbedeutend sind mit den Beziehungen zwischen den Wortsymbolen, die zu ihrer Darstellung verwendet werden. Und während die Zeit vergeht, erschließen wir uns das Wesen der Wirklichkeit – so wie wir uns die Grammatik einer Sprache erschließen – durch unsere Interaktion mit anderen. […]
Interessant an dieser soziologischen Sichtweise der Kenntnis von der Welt ist, dass die reale Welt innerhalb eines symbolischen Feldes neben anderen Bedeutungsbereichen so angesiedelt wird, dass der Unterschied zwischen dem Wirklichen und Nichtwirklichen eine soziale Konvention wird – nicht, wie wir allgemein annehmen, eine selbstverständliche Differenzierung, die von Naturgesetzen herrührt. […]
Es ist dieser innere Prozess – die Welt zu konstruieren und ihr die Stabilität zu erhalten –, der für Matt Mullican von besonderem Interesse zu sein scheint. Seine Arbeit – das Ergebnis einer eingehenden, fast obsessiven Innenschau – ist als ein gründlich durchdachter Versuch angelegt, den riesigen Komplex der inneren Wahrnehmungen, die das Verständnis seiner Welt ausmachen, nach außen hin zu duplizieren. Unter Einsatz aller erdenklichen Hilfsmittel – Zeichnungen, Lesungen, Performances, Plakate, Zeichen, Skulpturen, Fahnen usw. – widmet er sich der Aufgabe für die äußeren Sinne ein mehrdimensionales Bild derjenigen Prozesse nachzugestalten, die normalerweise unbewusst in uns allen ablaufen. […]
Die Welt, die Mullican in seiner Kunst erschafft, ist komplex, herzzerreißend, Furcht erregend und manchmal wundersam – aber nicht mehr als jene Welt auch, die sich jeder von uns aufbaut, von einem Augenblick zum nächsten, während wir unsere „Wirklichkeit“ konstruieren. Der Unterschied ist, dass Mullican die besonderen Umstände dieses intimen, sehr persönlichen Prozesses in eine so klare und kommunizierbare Darstellung übersetzen kann und dass er seiner privaten Welt im Bereich des öffentlichen Diskurses nicht nur einen nachprüfbaren Platz zuzuweisen vermag, sondern gleichzeitig vorschlägt, unsere eigenen persönlichen Wirklichkeiten zu demontieren.
Allan McCollum, „Matt Mullican’s World“, in: Katalog More Details from an Imaginary Universe, Museu de Arte Contemporãnea de Serralves, Porto, Turin 2000, deutschsprachige Beilage, S. 27ff.