Clegg & Guttmann --
Varianten des ästhetischen Kollektivismus
(i) In der ästhetischen Theorie stehen Individualismus und Kollektivismus für konkurrierende Auffassungen der künstlerischen Rezeption. Individualismus unterstreicht das Primat der Erfahrung des einzelnen Betrachters in seiner individuellen Begegnung mit dem Kunstwerk. Kollektivismus betont, dass jede Erfahrung Bestandteil eines ästhetischen Kollektivs ist. Der ästhetische Kollektivist erlebt Kunst gemeinsam mit anderen Menschen. Für den Individualisten ist der Kunstbetrachter im Wesentlichen alleine.
Individualismus entspricht wohl eher dem gesunden Menschenverstand; immerhin entsteht jede Erfahrung im Kopf des einzelnen. Der Kollektivismus verweist jedoch auf die Tatsache, dass beim individualistischen Ansatz ein bedeutender Aspekt unbeachtet bleibt: das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das bei einer gemeinsamen ästhetischen Erfahrung erzeugt wird. Dieses Gefühl ist nicht etwa nur ein zufälliges Phänomen, sondern wesentlicher Bestandteil jeder Kunst, ob man sie nun im Konzerthaus, im Kino oder im Museum erlebt. Nach Kant beschränkt sich wahre Kunst keineswegs auf das rein individuelle Wohlgefallen; Kunst muss stets den sensus communis des Betrachters ansprechen, und die Entfaltung dieses sensus communis bedarf der Erfahrung von Kunst.
(ii) Die neue Ausstellung von Clegg & Gutmann ist als Essay über die verschiedenen konkreten Formen des ästhetischen Kollektivismus in ihrer aktuellen künstlerischen Arbeit konzipiert.
i. In „What can be expressed and what is always left out from the description“ (Was ausgedrückt werden kann und was stets aus der Darstellung weggelassen wird) erscheint das Thema des ästhetischen Kollektivismus auf höchst transparente Weise. Wenn die individuellen Betrachter eine intellektuelle Arbeit leisten indem sie die verschiedenen Teile des Baums so zeichnen wie er ihnen zu unterschiedlichen Zeiten erscheint, dann sind sie an einem gemeinsamen ästhetischen Projekt beteiligt.
ii. „Constraint drawing” (Begrenzungszeichnen) hat diese Multi-Teilnehmer-Aktion ebenso klar zum Thema, wenn auch auf eine etwas andere Art.
Man könnte sogar sagen, dass das Kunstwerk selbst ein Mittel für kollektive Kreativität darstellt. Denn die in der Arbeit enthaltenen Bewegungen des „Modells“ und der drei „Zeichner“ schränken sich gegenseitig ein und die daraus resultierenden Zeichnungen repräsentieren die Gesamtsumme der Aktionen eines genuin ästhetischen Kollektivs.
iii. “Our production/the production of others” (Unsere Produktion/die Produktion anderer) ist ebenso von Relevanz für das gegenwärtige Thema und stellt das Ende einer Abfolge von Ereignissen dar, die die Fotografen (Clegg & Guttmann) und ihre Motive (Melos Quartet) betreffen. Clegg & Guttmann wurden zunächst gebeten die Musiker zu fotografieren. Das Foto wurde dann für ein Plattencover des vormaligen Beethoven Streichquartetts verwendet. Schließlich eigneten sich Clegg & Guttmann das Plattencoverbild von Neuem an, indem sie es erneut fotografierten und dann als ihre eigene Arbeit präsentierten.
iv. “Cardinal Red” (Kardinalsrot) entstand aus einer Kollaboration von Clegg & Guttmann mit Franz Erhardt Walther – ein Kunstwerk, geschaffen von den Fotografen und ihren Motiven. Insofern wie wir Franz Erhardt Walther bei der Demonstration der Benutzung der verschiedenen Teile seiner Arbeit für eine Performance zusehen, ist das Foto inhärent mit dessen Ideen befasst.
Andererseits ist die Arbeit auch ein Porträt, das sich unterschiedlicher kunsthistorischer Konventionen bedient; in dieser Hinsicht besteht große Übereinstimmung mit den Arbeiten von Clegg & Guttmann.
v. “Rus in Urbis” ist eine Installation, die deutlich nach einer kollektiven ästhetischen Rezeption verlangt; denn die Betrachter müssen ihre Tanzbewegungen dem Takt eines mechanischen Bullen anpassen.
vi. “The Open Tool-Shelter of Toronto” (Der offene Werkzeugschuppen von Toronto) schließlich zeigt wie das Kunstwerk seinen Einfluss weit über die Grenzen ästhetischer Anliegen ausdehnen kann. Als Vorrichtung zur Wiederverwendung und zum Tausch verschiedener Werkzeuge versucht die Arbeit den erweiterten Sinn für eine Gemeinschaft in ihrer sozialen Umgebung zu schaffen.
Zusammenfassend realisiert keine der Arbeiten in dieser Ausstellung eine Idee die im Kopf eines einzelnen Schöpfers entstanden ist. Die meisten der Arbeiten benötigen das Zusammenwirken verschiedener Akteure. Es handelt sich um offene Werke, die vom Betrachter vervollständigt werden müssen. Durch seine individuelle Art und Weise, wie er das Kunstwerk wahrnimmt, wird er zum Teil eines ästhetisch geschaffenen Kollektivs, das sich erst durch diesen Rezeptionsprozess generiert und bestehen bleibt.
Text: Michael Clegg, Martin Guttmann
Übersetzung: Martina Grünewald