Vera Frenkel -- Body Missing
[2001] wurde in den österreichischen Medien über einen Fund des Bundesdenkmalamtes in Wien berichtet: ein wieder entdecktes Fotoarchiv von 5600 in der NS-Zeit konfiszierten Kunstwerken. Dadurch erfuhr die 1994 für das O.K. in Linz hergestellte und nun weitergeführte Arbeit Body Missing von Vera Frenkel, die sich mit der Kunstraubpolitik des Dritten Reichs befasst […], nochmals an inhaltlicher Brisanz. In der Sechskanalvideoinstallation Body Missing und dem Web-Projekt BodyMissing geht es um den „Sonderauftrag Linz“, das geplante Linzer „Führermuseum“ und das Schicksal von Kunstwerken, die nach dem Zweiten Weltkrieg unauffindbar waren oder anderswo wieder aufgetaucht sind. Der „Sonderauftrag Linz“ war der systematische Plan Hitlers, sich Kunstwerke für das geplante „Führermuseum“ mit allen Mitteln anzueignen. Kunstwerke wurden aus ganz Europa ins Salzbergwerk von Altaussee gebracht, wo sie unter idealen konservatorischen Bedingungen gelagert wurden – bis zur ihrer Entdeckung durch die Alliierten.
In einer halb fiktionalen Rahmenerzählung erschafft Frenkel Charaktere, die uns auf die Fährte des „Sonderauftrags Linz“ führen. Die Künstlerin als Barkeeperin der Transit Bar lauscht zufällig den Gesprächen ihrer Stammgäste, zwei Frauen und einem Mann, über das Kunstsammelfieber und die Kriegstrophäen sowie den Fund von Listen. Aus Briefen, Gesprächsfetzen, durch die Befragung anderer Leute ergibt sich aus dem Puzzle ein Bild. Eine andere Erzählung baut auf der Begegnung mit Polly auf, einer berühmten Restauratorin und Kopistin aus Wien, wie mit Hannelore, Simone, Robert und Friedrich, die nach dem Studium der Hauptliste der verschwundenen Kunstwerke Rekonstruktionen als „Verkörperungen“ des kulturellen Gedächtnisses schaffen. […]
Frenkel arbeitet außerhalb dieser fiktiven Geschichten zur Veranschaulichung dieses Themas auch mit Archivmaterial, Skizzen und Dokumenten aus dem Linzer Stadtarchiv und mit atmosphärischen Bildern von gelagerten Kunstwerken, versteckten Gängen und symbolisch beladenen Orten wie der Aula der Akademie der bildenden Künste in Wien. Die teilweise von ihr selbst komponierten Musikstücke unterstreichen den detektivischen Umgang im Zusammenspiel der Puzzleteile. […]
Obwohl es sich bei Frenkels Arbeit um sechs mit Untertiteln versehene Videostationen handelt, überlagern sich die filmischen Sequenzen in Wiederholungen und Verschiebungen und schaffen viele Einstiegsmöglichkeiten im realen wie im virtuellen Raum zur Interaktion mit gegenwärtigem und historischem Material.
Aus einem Palimpsest von Erinnerungen, Gerüchten, Abwesenheiten und einem „Zeugnisablegen in Abwesenheit von Zeugenschaft“ kreiert Frenkel Kategorien größerer Sichtbarkeit und konstruiert einen Diskurs von Geschichtsschreibung. Im Unterschied zur Wissenschaft, die dem Konzept von Wahrheit und Wirklichkeit verpflichtet ist, ist das künstlerische Schaffen privilegiert, da es Freiräume ermöglicht und jenseits von Faktizität Geschichtsschreibung betreibt, die auch Gestaltung ist und jedes Geschichtsbild mit anderen Bildern überlagert.
Hedwig Saxenhuber, „Vera Frenkel. Body Missing“, in: Springerin, 4 (2001/2002), S. 70