Martin Dammann -- Zweite Totale

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Martin Dammann
Zweite Totale
05/09/2008 - 08/11/2008

Mit dem Begriff der „Aura" versucht Walter Benjamin in seinem bahnbrechenden Buch Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) dieses ungewisse Etwas zu bezeichnen, das dem Kunstwerk verlustig geht, wenn es mittels mechanischer Verfahren vervielfältigt wird. Genau genommen kehrt der deutsche Künstler Martin Dammann den von Benjamin beschriebenen Prozess um und führt seinem technisch reproduzierten Quellenmaterial – in diesem Fall Archivfotografien – über den Weg der Malerei etwas von der verloren gegangenen Aura wieder zu.

In seiner gegenwärtigen Ausstellung zeigt Dammann eine Serie großformatiger aquarellierter Landschaften, aber auch vergrößerte Archivfotos, Zeichnungen von zurückgelehnten Frauen, seltsame und mithilfe eines Scanners hergestellte „Abbildungen" von Objekten. Suchte man einen einzelnen Begriff, um die Gemeinsamkeiten in den sich unterschiedlicher Techniken und Formate bedienenden Arbeiten zu bezeichnen, so wäre es wohl der, der „Landschaft" im weitesten Sinne. Martin Dammanns Werk begnügt sich nicht mit einem Kommentar zu den zwei Weltkriegen, auch wenn seine Arbeiten auf Originalfotos aus jener Zeit beruhen. Seine Bilder sind weder blutig noch gewaltvoll; sie überwältigen den Betrachter nicht mit grauenvollen Ansichten oder martialischen Aussagen. Vielmehr bezeugen sie das Interesse des Künstlers an Historie, untersuchen sie doch einerseits die Art und Weise, mit der wir historische Dokumente begutachten, andererseits die Emotionen, die Archivbilder auslösen (insbesondere Familienfotos, sogar wenn die darauf abgebildeten Menschen mit dem Betrachter nicht verwandt sind). In den Worten Benjamins: „Es empfiehlt sich, den oben für geschichtliche Gegenstände vorgeschlagenen Begriff der Aura an dem Begriff einer Aura von natürlichen Gegenständen zu illustrieren. Diese letztere definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgend, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft, das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen."(1)

Die Ausstellung Zweite Totale (ein Filmbegriff, der die Gesamtübersicht über ein Szenario bezeichnet) beruht auf einem mehrmonatigen Projekt. Zielsetzung war es, eine Serie von Landschaftsbildern zu erschaffen, die sich in erster Hinsicht mit Natur beschäftigen, oder genauer: mit dem Begriff der Natur und der ihm innewohnenden Romantik. Fünf großformatige Aquarelle formen im Hauptausstellungsraum der Galerie eine Art Schwerpunkt, um den herum sich die anderen Werke gruppieren. Der offensichtlichen Menschenleere der Landschaften steht eine Serie kleinformatiger Zeichnungen von Geliebten gegenüber. Dennoch wäre es irreführend, die oben erwähnte Romantik in den menschlichen Figuren oder den entvölkerten Landschaften zu suchen, da sie letztlich im verlangenden und liebenden Blick dessen verborgen liegt, der ursprünglich das Foto aufnahm, welches als Grundlage von Dammanns Arbeit dient.

In einem weiteren Sinne behandelt die Ausstellung auch die Frage: „Was ist Krieg?" Denn abgesehen von Soldaten und Waffen hat Krieg immer auch mit Landschaft zu tun. Zum einen betrachten die Kriegführenden Landschaft mit dem expliziten Wunsch, sie unter ihre Kontrolle zu bringen. Hierauf verweisen mehrere Bilder aus Aufklärungsflugzeugen, die Luftaufnahmen strategischer Zielobjekte zeigen (etwa vom Mont Saint-Michel in der Normandie, dessen vermeintliche Ähnlichkeit mit einer Militäreinrichtung freilich nicht offensichtlich ist). Es sind Bilder, die der Künstler nicht in Aquarellen weiterverarbeitet, da allein schon ihre detailgetreue fotografische Vergrößerung die grundlegenden Eigenschaften des Originals deutlich erkennen lassen und auf die von Benjamin in der Aura verortete „Erscheinung einer Ferne" verweisen. Zum anderen wird die Landschaft durch die Kampfhandlungen, die Schussgefechte und Bombenabwürfe mitsamt der nachfolgenden Verschiebung von Grenzverläufen, weitreichenden Änderungen unterzogen, die mit der Inbesitznahme des umkämpften Gebiets durch den Gewinner einhergehen.

Letztlich wird die Landschaft in Besitz genommen, indem sowohl ihr Bild als auch ihre Wirklichkeit verändert werden: Die Inbesitznahme beider, sprich: des begehrten Territoriums und seiner Umwandlung, schließt den Prozess ab. Diese dreifache Logik “des Betrachtens und Veränderns sowie der Inbesitznahme“ liegt auch Martin Dammanns jüngster Werkserie zugrunde. Als erstes betrachtet der Künstler die Originalbilder; dann zeichnet oder malt er, wobei er das Betrachtete interpretiert; schließlich nimmt er Besitz von den Bildern, indem er ihre verborgenen Eigenschaften – sollte man sagen Aura? – offenlegt. Ähnlich wie Benjamins Berge oder Zweig handeln Dammanns Bilder vermutlich von Ferne, so nah sie auch sein mag.

Text: Thibaut de Ruyter

(1) Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1966, S. 15.