Lenora de Barros -- To Double Images is to Multiply or to Divide Ideas?

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Lenora de Barros
To Double Images is to Multiply or to Divide Ideas?
14/05/2022 - 17/07/2022

 

Lenora de Barros: Spielräume! 

“Was mit der Verkümmerung des Scheins, dem Verfall der Aura 
in den Werken der Kunst einhergeht, ist ein ungeheurer Gewinn an Spiel-Raum”
 

Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1936. 

Walter Benjamins Worte haben im 20. Jahrhundert einen radikalen Wandel im Bereich der Bilderbetrachtung vorausgesagt. Er schuf einen historischen Rahmen für eine Reihe von Transformationen in Museums- und Galerieräumen. Zum Glück war Benjamin nicht allein. In den 1930er Jahren widmeten sich andere aufmerksame Schriftsteller wie der Brasilianer Mário de Andrade und der Spanier Federico García Lorca der Kraft des Spiels und den Vorteilen der Reproduktion von Bildern. Außerdem lieferten sie andere Existenzformen von Aura und dem Geist oder el duende, in Lorcas Worten. 

Es ist innerhalb der Tradition des Spiels, der Reproduzierbarkeit und des Geistes das Lenora de Barros ihre Arbeit entwickelt. Die Physiognomie ihrer Arbeit ist eine Reihe besonderer Spiele. Die Künstlerin spielt, und ohne zu gewinnen oder zu verlieren, gewinnt das Spiel. Anders als von Benjamin angekündigt, spielt Lenora de Barros mit der Aura, ihr Spiel aurisiert den Blick der Zuschauer.

Erstens, weil die Künstlerin das Spiel so konfiguriert, dass es mit dem Spiel spielt. Während des Spiels beschäftigt sich der Betrachter mit neuen Regeln rund um den Umgang mit Ball, Kissen, Tischtennisplatte, Damespiel und Bildern. Die ganze Ausstellung findet in dieser Zeit statt, in der ein Spiel gespielt wird. Ohne den Kunstgriff der direkten Partizipation am Kunstwerk sind wir auch Betrachter bisher geheimer Regeln. Was sind diese Regeln? Die erste davon ist eine Ontologie der Redundanz: „coisa em si“. De Barros sagt, dies sei das „Ding selbst“

Im Spiel von Lenora de Barros hat das „selbst“ einen Wert in sich selbst. Wiederholung ist eine sinnvolle Handlung. Es gibt keinen Verschleiß.

Zweitens treffen sich im Geiste der Redundanz die Ähnlichkeiten. Im Vordergrund spielt ein Tischtennisball mit dem Blick des Betrachters. Dieses Spiel provoziert Synästhesie. Bitte denken Sie daran: Lenora de Barros ist eine Dichterin. Durchdrungen von den unterschiedlichsten Praktiken, die der Begriff Poesie besitzt, ist sie in der Lage, den Blick der Betrachter zu einem einzigartigen Hörakt zu mobilisieren: Der hüpfende Ball existiert auch durch Worte. Hier ist das Spiel vom „Ping-Poem“. Das Auge hört, und das Ohr sieht.

Einmal mehr macht Lenora de Barros einen weiteren Schritt über Benjamins Anmerkung hinaus, die uns als Ausgangspunkt dient. Spielend erweitert sie in ihren „umas“-Kolumnen (Übersetzung: „etwas“) die Wiedergabefähigkeit von Klang, Stimme, Handbewegungen und in einzigartigem Schreiben. De Barros spielt, wenn sie schreibt: „Bilder zu verdoppeln heißt, Ideen zu multiplizieren oder zu teilen?“ Damit reproduziert sie Serien, die das Unendliche und das Minimale anstreben. Wie auch immer, sie muss jedoch nicht zu solchen Extremen gehen. Sie spielt in Zwischenräumen. Ihr Spiel ist das Feld der Bilder, das auch den Ton einschließt, also die akustischen Bilder.

Die dritte und letzte Regel ist die des Signifikanten selbst. Hier entlarvt das „coisa em si“ („Ding an sich“) das „si da coisa“ („an sich der Sache“). Redundanz wiederholt sich nicht immer, sondern erzeugt minimale Unterschiede. Lenora de Barros ist in der Kunst der Parodie angesiedelt. Sie parodiert die Vorstellung von Reproduktion, Spiel, Arbeit, Zeit und Raum. Die Idee selbst. Die Idee an sich selbst.

Bei Lenora de Barros ist Redundanz eine theatralische Kunst. Eine andere Spielidee, die die englische Sprache zulässt, ist die des Theaterspiels. Kombiniert mit der Regel der Synästhesie gewinnen die Hände Masken. Mit den Händen spielend gehen Tragödie und Komödie eine unendliche Parodie ein. Parodie ist hier im Sinne des brasilianischen Dichters Haroldo de Campos zu verstehen, der das Wort im Sinne einer griechischen Etymologie liest: Parallelgesang („Para Ode“). Alles singt gleichzeitig. Dieser Chor, den wir Ausstellung nennen, ist eine der klügsten Verwendungen der Simulation in der Poesie, die, um ihre lange Existenz auf der Erde fortzusetzen, zum geschicktesten Objekt des Spiels wird. Nur wenige Sensibilitäten können die taktile Performance eines „Spielraums“ erreichen.

Wie schön ist es, Lenora de Barros spielen zu erleben! 

Eduardo Jorge de Oliveira

Eduardo Jorge de Oliveira ist Professor für Literatur, Kultur, Medien und Brasilianische Studien am Institut für Romanistik der Universität Zürich, Schweiz, und Associate Researcher am DFK, Deutsches Forum für Kunstgeschichte, Paris. Er schreibt über Literatur und bildende Kunst.

 

 

Lenora de Barros wurde 1953 in São Paulo geboren. Sie begann ihre künstlerische Arbeit in den 1970er Jahren unter dem Einfluss der visuellen Poesie (insbesondere von Noigandres, der Gruppe für konkrete Poesie in Brasilien) und den experimentellen Kunstbewegungen der Zeit. Eines ihrer ersten Kunstwerke, Poema (1979), eine fotografische Performance, in der die Künstlerin sinnlich mit einer Schreibmaschine interagiert, wurde von der Kuratorin Cecilia Alemani für die Ausstellung The Milk of Dreams im Hauptpavillon in den Giardini bei der 59. International Art Exhibition La Biennale di Venezia ausgewählt. Poema war auch Teil der ikonischen Ausstellung Radical Women: Latin America Art, 1960 – 1985, die 2017 im Hammer Museum of Art, Los Angeles, und 2018 im Brooklyn Museum, New York, und in der Pinacoteca do Estado de São Paulo, São Paulo, gezeigt wurde.

Die Ausstellung bei Georg Kargl Fine Arts vereint eine Werkgruppe der Künstlerin, welche 1990 ihren Ursprung mit einer Ausstellung im Kulturzentrum Mercato del Sale in Mailand hatte. Lenora de Barros integrierte Elemente des Ping Pong Spiels als Unterstützung für poetische und visuelle Erfahrungen, welche spielerische und interaktive Aspekte, sowie Fragen der Befruchtung und Reproduktion - sowohl von Frauen als auch von Poesie und Kunst - untersuchten. Auf den in der Ausstellung gezeigten Schwarz-Weiß-Fotografien von 1990 tritt die Künstlerin in eine spielerische Beziehung zum eigenen Körper und in ein Gespräch mit den bedruckten, an Eizellen erinnernden Tischtennisbällen - coisa em si (Ding an sich) und coisa de nada (Ding von nichts). Die von Lenora de Barros als Ping Poems benannte Werkgruppe erfährt diverse Weiterentwicklungen, wie Skulpturen aus Tischtennisschlägern und -netzen, Foto- und Videoperformances und auf Tischtennisbälle gedruckte poetische Texte.

In der gegenwärtigen Ausstellung präsentiert die Künstlerin zwei neue Werkgruppen: Jogo de Luvas (Glove Games), 2022 und A Revolta da Delicadeza (The Revolt of Delicacy), 2021/22. Jogo de Luvas ist eine Serie von Fotoperformances, in der de Barros mit ihren behandschuhten Händen einen mit dem Wort „Poem“ bedruckten Tischtennisball bearbeitet. A Revolta da Delicadeza besteht aus Kissen, Stoffen, Gaze und ähnlichen Materialien, und kann ebenfalls im Kontext der Weiterentwicklung der Ping Poems gelesen werden. 

Ebenso zeigt de Barros eine neue Version eines „Ping Poem“-Tisches“ (die erste Version stammt aus dem Jahr 2000) und verteilt mit einzelnen Worten bedruckte Tischtennisbälle über den Galerieboden. Zusammengefügt stellen die Worte auf den Tischtennisbällen die Frage: „to double images is to multiply or to divide ideas? (Bilder zu verdoppeln bedeutet, Ideen zu multiplizieren oder zu teilen?)”

Teil der Ausstellung ist schließlich auch die Videoperformance Jogo de Damas (Checkers), 2013 in der die Künstlerin poetische Dialoge mit anderen Künstlerinnen wie Cindy Sherman, Anette Messager, Méret Oppenheimer und Lygia Clark führt. Die Texte für das Video wurden von de Barros zwischen 1993 und 1996 im Rahmen einer experimentellen Kolumne über Kunst in der Zeitung „Jornal da Tarde“ aus São Paulo geschrieben.