Carl Andre --

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Carl Andre
12/05/2006 - 12/08/2006

Über Carl Andres Gedichte

Indem er seine Arbeiten flach auf den Boden legte, eröffnete Carl Andre eine neue Sicht auf die Skulptur; in seiner literarischen Auseinandersetzung ist er nicht weniger radikal. In Übereinstimmung mit seinem Verständnis vom Wort als konkreten Baustein entwickelte Andre eine Dichtform, die den geometrischen Formen aus industriellen Materialien, Holzbalken und Ziegeln in den für ihn charakteristischen drei-dimensionalen Arbeiten ähnelt. Seine Gedichte beinhalten nicht immer vollständige Sätze, Wendungen oder assoziativ verbundene Begriffe, sondern verwenden die Wörter in ihrer Aufeinanderfolge. Der so entstandene Text funktioniert als graphisches Muster, und auch als Gedicht – ist gleichzeitig bildende und darstellende Kunst als auch Literatur. Anlässlich seiner ersten Galerie-Ausstellung bei Timor de Nagy, bemerkte Andre, dass er „den Raum ergreifen und festhalten“ wolle. Gleiches gilt auch für seinen Zugriff auf das reine, weiße, 8 1/2 x 11 inch Blatt Papier, auf das genormte Fertigprodukt schlechthin. Die Wörter werden mit einer mechanischen Schreibmaschine systematisch eingeprägt oder mit einem Filzstift handgeschrieben – zumeist dichter schwarzer Text auf weißem Grund, manchmal umgekehrt, gelegentlich auch in roter Farbe.

Über 1.000 Seiten hat Andre seit den späten 1950ern geschrieben; jedes einzelne seiner Gedichte kennzeichnet eine streng formale Struktur. Die Stellung der Buchstaben, die die Wörter bilden, und die Positionierung der Wörter auf dem Blatt, erschlossen ihm eine immense Vielfalt an Formen und Schemata. Die Anordnung der Wörter steckt oft klar erkennbare Felder ab, eine sorgfältig auf die Seite abgestimmte Text-Landschaft. In vielen seiner Gedichte verwirft Andre das die einzelnen Worte konstituierende Leerzeichen. Die Worte scheinen in umfassenden Buchstabenflächen unterzugehen. Er eröffnet uns einen spielerischen Zugang zur Dichtung über die spezifische Schönheit der Wörter – über ihr Bedeuten, Benennen und ihre Ausstrahlung. Wie Andre sagt: „Ich versuche einen verlorengegangenen Teil der dichterischen Arbeit wiederzufinden. Unsere ersten Dichter waren Namens-Nenner und nicht Reime-Macher. Der Name ist das Größte und Ursprünglichste des Gedichts.“ Andres Verfahren beschränkt die Dichtung auf ihre unabdingbaren, einfachsten Elemente, genau wie er der Idee von Skulptur alles überschüssige Beiwerk genommen hat. Worte (alltägliche Gegenstände) haben, so Andre, „offensichtlich fühlbare Eigenschaften, die wir spüren, wenn wir sie aussprechen, wenn wir sie schreiben oder wenn wir sie hören, und das ist das eigentliche Thema meiner Dichtungen.“

Im Frühwerk bilden die Worte noch Sätze, in den späteren Gedichten ersetzt die graphische Komponente immer mehr die Syntax. Andres kompositorische Fähigkeiten verleihen den Arbeiten eine bildhafte Ausdrucksstärke. Es fällt daher nicht schwer, Verbindungen zwischen seinen skulpturalen und seinen poetischen Arbeiten zu finden. Die Worte werden zusammengezogen oder in vertikalen Spalten gegliedert. Der Gesamtentwurf einer Seite ist deutlich sichtbar, lange bevor man aus den Buchstaben und Wörtern einen Sinn herauszulesen vermag.

Andres graphische Anordnungen enthalten Listen, Gitternetze, Felder, Karten, Stapel und andere zur Erfassung von Information dienende Muster. Gleichzeitig erhalten die Gedichte durch das Zitieren klassisch literarischer Formen, wie Sonette, Lieder, Oden, Lamenti, Opern, Dithyramben oder Romane den letzten Schliff. In One Hundred Sonnets (I...flower), 1963, bestimmt die Wiederholung ein- und desselben Wortes die Seite indem sie eine Sequenz von Textfeldern bildet, die direkt mit den „Räumen“ zu korrespondieren scheinen, die Andre mit seinen Bodenskulpturen besetzt.

Jede Seite ist aus nur jeweils einem ohne Abstand wiederholt getippten Wort in Kleinbuchstaben zusammengestellt. 99 verschiedene Worte ergeben 99 Gedichte plus ein Titelblatt. Ein kleines Feld in der Mitte jeder Seite besteht aus 14 identischen, übereinander gesetzten Zeilen. Pronomina, Körperteile und -flüssigkeiten, Naturelemente, Farben und Zahlen sind in Blöcken zusammengestellt, manche davon sind neutral gehalten, andere entstammen Sprüchen von WC-Wänden. One Hundred Sonnets ist ein ausladender und emotional vielschichtiger Blick auf das in einzelnen Brückstücken beschriebene Menschsein.

Carl Andres Freund aus Kindertagen, Hollis Frampton, (der, neben Sol Lewitt in einigen Gedichten auftritt), hat 1969 in einem Katalog-Essay die Dichtungen des Künstlers knapp kommentiert: „Die Erkenntnis, dass Worte neben ihren klanglichen und assoziativen Eigenschaften auch räumliche und plastische Qualitäten haben, hat sich systematisch herausgeschält aus dem Raum der Seiten, die durch die Schreibmaschine zu einförmigen Gittern wurden“.

Text: Rob Weiner