Henri Chopin -- Lutte Poétique

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Henri Chopin
Lutte Poétique
08/03/2019 - 20/04/2019

Henri Chopin (1922-2008) war ein visionärer Künstler, dessen reichhaltiges und vielseitiges Schaffen Ausstellungen, Tonaufnahmen und zahlreiche öffentliche Auftritte umfasste. Als Teilnehmer an der documenta 8, Herausgeber (OU Review 1964-74), konkreter Dichter und Lautpoesiekünstler gehörte Chopin zur literarischen und künstlerischen Avantgarde seiner Zeit. Aber Chopins Kunst der körperlichen Intuition beschränkte sich nicht auf Druckbild, Collage und improvisierte Performances; in den 1990ern entstanden totemische Skulpturen, in denen er Reste von Tonbandspulen verarbeitete, die Aufnahmen seiner Performances beinhalteten oder ihrer Modulierung gedient hatten. Mit ihren Holzsockeln und vertikalen Stäben sind sie Stellvertreter des menschlichen Körpers und Meilensteine seines späten Schaffens.

Aus der Asche von Dada und Kurt Schwitters “Ursonate” stiegen im Paris der 1950er- Jahre die Klangkunst und visuelle Poesie, die in der Folge in ganz Europa Verbreitung fanden und zu deren einflussreichem Vertreter Chopin wurde. Ihr alleiniges Ziel war eine Erweiterung der Faktoren unserer Sprache und zugleich das Transzendieren des Schreibens selbst. Chopin vertrat die Ansicht, dass die Ursprache des Menschen alle bekannten Alphabete, Piktogramme und Idiographen übertrifft. Und so sollte im Nachkriegseuropa eine neue Sprache geboren werden, nicht eine der Worte, sondern eine poetische, die in der Alltagssprache gewöhnlich außer Acht gelassene Klangelemente in den Vordergrund stellte. Ihre Entwicklung umfasste die artikulierten Klänge von Worten und Buchstaben, Atemgeräusche, das Timbre gesprochener Worte und das Vibrato des Kehlkopfes.

Der Lautkünstler Chopin entfachte einen Wirbelsturm von Kräften, die zugleich losgelassen und reguliert waren; ihr Klang bildete eine äußerst eigenartige und singuläre Art des Ausdrucks, der von den Hohlräumen seines Körpers auszustrahlen schien. Diese breitgefächerten, modulierten Töne klangen im Raum nach; einmal war ein weinendes Klagen zu hören, ein andermal eine dampfende Sturzflut brennenden Aufruhrs. Stakkatorhythmen brachten Schwung hinein, dann öffneten plötzliche Brüche in den Aufnahmen fließende Übergänge mit räumlicher Dynamik. Ein Ping da, ein tiefes, heiseres Summen dort, dann die kürzeste aller Atempausen als stille Note vor einer Beschleunigung, der eine Verlangsamung folgte, und zuletzt ein Ausklingen in die Leere. In diesen bedeutungsvollen Klängen und stimmlichen Gestiken zeichnen sich die Formen und Strukturen der ungesehenen Sinne des Menschen ab. Chopin verwendet seinen Körper als ein Instrument, wie ein feingestimmtes Cello oder eine liebliche Geige. Alle Reize, die unsere inneren und äußeren Sinnesrezeptoren aufnehmen, vermitteln hörbar Variation, Ton und Farbe. Temperatur, Druck, Berührung, Schmerz, Sehen, Hören, Geschmack und Geruch sind in diesen Etüden der Sinne abstrakt impliziert. Vom Minimalistischen zum fast schon Symphonischen folgt seine Lautpoesie einem Aufbau, dem ein harmonisches Gleichgewicht eigen ist. In manchen Momenten vermittelt sie Lichteindrücke von weit entfernten Zeiten und Orten, in anderen brachte die Länge der Aufnahmen Chopin an die Grenzen seiner körperlichen Möglichkeiten. Oft mit Antonin Artaud verglichen, war er der Vulkan und das Erdbeben, deren Ausbrüche und Erschütterungen im Halbdunkel einer Black-Box-Bühne zu hören waren. Solch kraftvolle Klanggedichte setzen noch immer die Maßstäbe des Genres.

Chopins visuelle Gedichte, Bücher, Fotodokumentationen von Performances, Malerei, und skulpturale Assemblagen bilden das Herz der Ausstellung. Sie unterstreichen und verstärken die Bedeutung von Chopins Klangkunst und ihre bildliche Unmittelbarkeit zeigt uns einen Künstler, der sein Genre unter Kontrolle hat. Die rätselhaften Notationen in seinen maschinengeschrieben Formen entwickeln auf der formalen Ebene ein Vokabular und eine Ästhetik. Buchstabenreihen verbinden sich und zersplittern, die konkretisierte Form dominiert das Blatt, auf dem jeder Buchstabe eine rationale Miniaturstruktur darstellt. Die Dynamik dieser konkreten Gedichte wurde in Drucken, Folios, Multiples, Plakaten und Ausstellungskatalogen repliziert. Sie verdeutlichen Chopins visuelle Verbindungen zu Dada, Futurismus und Fluxus, während sie gleichzeitig seine eigene Sensibilität hervorkehren. Er entwickelte eine faszinierende Art, Blöcke von Buchstaben in Abständen anzuordnen, die architektonische Geometrien mit palladianischer Symmetrie entstehen ließen. Wir dürfen ihn uns mit einem Morgenkaffee und einer brennenden Zigarette in der Hand vorstellen. Er hat sich schon an den Tisch mit der Schreibmaschine gesetzt und rattert eine Serie von Arbeiten herunter, in die er Kaffeeflecken und -filter sowie Tabaküberreste integriert und collagiert.

Als Poète maudit überlebte Chopin während des Zweiten Weltkriegs Internierungslager, Gefängnisaufenthalte und einen Todesmarsch. Und wie seine Dada-Vorfahren erreichte er das Erwachsenenalter in den Wirren des Krieges, wurde zum Opfer seiner Grausamkeit und widmete sein Leben danach einem Gegenentwurf im Rahmen seiner Kunst. Er war einer jener autonomen Heiligen des Stroms der Poesie, der ungebrochen weiterfließt. Apollinaire, Raoul Hausmann, François Dufrêne, E.E. Cummings, William Burroughs, Brion Gysin, Dom Sylvester Houédard, Dieter Roth und viele andere zählen zu seinen Brüdern. Ungebändigte oder schlecht regulierte Energien werden in dieser Leere nicht verschwendet, wie jene von an der freien Luft verbranntem Kohlenstoff oder Dämpfen, die nicht durch industrielle Apparaturen eingefangen werden. Chopin hatte eine intuitive Fähigkeit, seine inneren Energien zu regulieren und eine latente Kraft ermöglichte ihm, die Geschwindigkeit seines Instruments, des physischen Körpers zu handhaben. Darin liegt die Erinnerung an seine Leiden und Schmerzen, das Wissen von unausgesprochenem Horror, unterdrückter Wut, und dann ein Ur-Sprung über das Material hinaus, um es in einen transzendentalen Zustand zu erheben. Solche Kräfte wurden dabei in einer strahlenden Anima zusammengetrieben, die weit in den Kosmos hinausreichte und dann wieder auf festem Boden landete, auf dem Weg zu einer vertieften Menschlichkeit.